ReportagePfahlsitzen in Mommark – Dänemarks härteste Langstrecke

Ursula Meer

 · 04.10.2025

Sander, Kevin, Mathias und Casper nach zwei Nächten – noch 27 Stunden bis zum Ziel.
Foto: Ursula Meer
Pfahlsitzen: Beim Hafenfest in Mommark verharren vier Menschen drei Tage lang auf Pfählen, der Hafenmeister singt dazu. Chronik eines skurrilen Wettbewerbs.

Das letzte Juli-Wochenende 2025 ist eins der Sport-Superlative, mit Admiral’s Cup und Fastnet-Race, Tour de France und Schwimm-Weltmeisterschaft. Derweil im dänischen Mommark: Vier Männer schieben sich Kissen unter das Gesäß und nehmen auf Pollern Platz, über sich kleine Sonnenschirme, unter sich Wasser.

Ihre sportliche Herausforderung besteht darin, bis zu 72 Stunden auf den Pfählen in der Marina im Süden der Insel Als auszuharren. Auf die Gewinner wartet ein Preisgeld von knapp 2.700 Euro – 37,50 Euro pro Stunde, wenn nur einer das Rennen macht, magere 9,40 Euro, wenn alle durchhalten. Das aber kam in Mommarks Zeitlupenwettbewerb noch nicht vor.


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Donnerstag, später Nachmittag. In der Marina ist eine Bühne aufgebaut, aus hohen Boxen schallt Musik. Ein Team des NDR dreht für „Mare TV“. Vor der Kamera geben sich die Teilnehmer siegessicher. Sander, weil er mit seinen 23 Jahren der Jüngste im Quartett ist. Kevin, durchtrainierter ehemaliger Soldat mit aufrechter Haltung, bezeichnet sich als den Willensstärksten von allen.

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Casper war sich schon in seinem Bewerbungsschreiben sicher: „Ich will unbedingt gewinnen, auch wenn ich dafür meinen armen Arsch opfern muss.“ Bestens ausgestattet mit einem Bauchgurt mit zwei Trinkflaschen, von dem an langen Gurten weitere Ausrüstung hängt, hebt er vor der Kamera beide Arme und lässt ein lautes „Hau!“ hören. Mathias indes zupft mit beiden Händen am Saum seines gelben Fußballtrikots wie ein kleiner Junge, der etwas ausgefressen hat. Dass Posen keine Sieger ausmachen, soll sich noch herausstellen.

Gehört seit 2013 zum Hafenfest in Mommark: Pfahlsitzen

Die vier besteigen das Boot, das sie Tag und Nacht versorgen wird, gesteuert von Hafenmeister Carsten Kock in seiner gelben Warnweste. Einer nach dem anderen platziert seine Ausrüstung an Haken. Die besteht aus Wechselwäsche und Jacke, Decken oder Schlafsack, Handy und Powerbanks und anderen Kleinigkeiten, die das vertikale Wohnen angenehmer gestalten können. Sie klettern auf die Pfähle. 18 Uhr: Der Wettbewerb beginnt mit Musik und einer Ansage von der Bühne. 18:10 Uhr: Mathias und Casper schauen auf ihre Uhren.

Das Pfahlhocken gehört zum Hafenfest in Mommark, seit Carsten Kock die Marina 2013 übernommen hat. Er betrachtet es durchaus als Sport, denn alle Teilnehmer suchen eher die Herausforderung, als dass sie auf das Preisgeld hoffen. Sie gehen an ihre Leistungs- und Erträglichkeitsgrenzen und müssen ausreichend akrobatisch sein, um nach der Ausrüstung unter ihren Füßen angeln zu können. Das geht auch schon mal schief: Einmal rutschte dabei ein Teilnehmer schon nach fünf Stunden vom Poller.

Der Abstand vom Ufer lässt gerade noch Unterhaltungen der Sitzsportler mit ihren Shorecrews zu – Familie und Freunde, die vorbeischauen und aufmuntern. Nur nachts, wenn Kälte und Müdigkeit auf die Moral drücken, ist das verboten. Sanders Mutter Pia ist zur Unterstützung gekommen. „Heute Nacht hatte er ein Tief, da habe ich länger mit ihm telefoniert, das ist immerhin erlaubt“, erzählt sie schon am Freitagmorgen.

Der Jüngste in der Runde war bereits zwei Mal auf der Toilette. Nun muss er mit wippenden Knien bis 18 Uhr am Abend durchhalten. Denn die Pfähle sind keine Donnerbalken. Die Frage nach dem Toilettengang wird zum Top-Thema unter den Zuschauern. Nur zwei Mal in 24 Stunden dürfen die Wettbewerber für je 15 Minuten an Land, um das WC aufzusuchen. Einleitung ins Hafenbecken ist tabu. „Nur einmal mussten wir nachts davon abweichen“, erzählt Carsten, „als es sehr heiß war und die Teilnehmer viel trinken mussten.“

Andere Zuschauer werfen die Frage nach dem Thromboserisiko auf oder die, ob die Familienplanung der Herren bereits abgeschlossen sei. Letzteres ist Privatsache, um alles andere kümmert sich ein Sanitätsteam. Es steht rund um die Uhr bereit, falls jemand Probleme bekommt oder ins Wasser fällt. Zwar geben die meisten freiwillig auf. Aber gerade nachts kann schon mal jemand in den Schlaf und dann ins Hafenbecken gleiten.

Rein in die erste Nacht

Am Abend nimmt das Hafenfest Fahrt auf. Bootscrews, Camper und Leute aus der Umgebung versorgen sich an Buffet und Tresen mit Essen und Getränken, lachen und genießen. Auf der Bühne singt der Hafenmeister mit „Soon may the wellerman come …“ ausgerechnet jenes Lied, das die Tage und Wochen dauernde Geduldsprobe von Walfängern beschreibt, deren Boot von einem Wal immer weiter auf See gezogen wird. Beabsichtigte Analogien zum Wettbewerb sind nicht auszuschließen. Später besingt Elton John seine „Nikita“ und Whitney Houston schwört in höchsten Tönen ewige Liebe. Lieder, die sich als Ohrwürmer einnisten und die ganze Nacht durch schlaftrunkene Köpfe geistern können, die nur eins nicht zulassen dürfen: Tiefschlaf.

»Ich werde nicht verschlafen und will unbedingt gewinnen, auch wenn ich dafür meinen armen Arsch opfern muss.«

​Mit dem Sonnenuntergang geht die Musik aus. Carsten klettert auf eine Bank. Hellgelb leuchtet seine Weste im letzten Büchsenlicht, als er das Jagdhorn zum Abendappell anhebt und ein kurzes Lied bläst. „Godnat, Mommark! Gute Nacht, Mommark!“, ruft er zweisprachig und winkt über das Hafenbecken. Die Segler holen ihre Flaggen ein, es wird ruhig.

Kurz vor Mitternacht ziehen Wolkenfetzen über den Himmel, der Mond taucht die Szenerie in wechselndes Licht. Die Pfahlhocker schieben zu dritt Nachtwache: Casper hat sich von rechts außen Sander und Kevin zugewandt. Sie reden und lachen miteinander. Kevin erzählt etwas von „Danish Dynamite“, Casper von seiner Familie. Mathias schweigt, er ist wohl auf Freiwache. Die vier weisen erste Anzeichen einer Crewbildung auf.

Alle sind gut – das gab’s noch nie

Früh am Samstagmorgen sind die Bootsdecks von kaltem Tau überzogen. Ein Blick aus dem Cockpit zeigt: Alle vier sitzen noch da. Kevin hat einen Schlafsack über seinen Kopf gezogen und hockt dort wie eine umgedrehte Fledermaus. „Die Nacht war aber ganz gut“, erzählt er, als Carsten ihnen mit dem Boot das Frühstück bringt. „Ich konnte sogar etwas schlafen.“ Dabei reichen die dünnen Sonnenschirmchen im Rücken gerade für ein wenig Balance, keineswegs aber, um sich sicher anzulehnen. „Ich habe mir vorgestellt, ich sei eine Kartoffel. Damit habe ich eine passende Position zum Schlafen gefunden“, beschreibt Sander den Zustand, der sich wie Hundewache in Dauerschleife anfühlen dürfte.

Carsten hadert indes mit seiner Kandidatenwahl. „Die sind einfach zu gut. Wenigstens einer sollte bis Sonntagabend durchhalten“, konstatiert er, „aber doch nicht alle!“ Kurzerhand werden die Regeln verschärft: Samstag um 15 Uhr geben alle ihre Schirme und die elektronischen Geräte ab. Ab jetzt wird’s hart: Sonne und Regen ausgesetzt, keine Telefonate oder Chats. 27 Stunden bis zum Finish.

Woher Pfahlsitzen seinen Ursprung hat

Direkt neben den Pfählen hat die „Living Hope“ festgemacht. Deren deutsche Crew nähert sich nach anfänglichem Erschrecken über die Zurschaustellung nun akademisch der Frage der Herkunft des Pfahlsitzens. Die Recherche führt in die Antike, als Säulenheilige ganze Jahrzehnte in luftiger Höhe verbrachten, um Gott näher und dummen Fragen ferner zu sein. Eine andere Quelle besagt, dass in Holland nach einer Sturmflut Leute auf den Pollern von Wiesenzäunen ausharren mussten – der Ursprung dortiger Pfahlsitz-Wettbewerbe.

In den 1920er-Jahren gab es in den USA einen Boom im „Pole Sitting“, und im Heidepark Soltau hat zuletzt ein Pole ganze 197 Tage auf einem Pfahl verbracht, bis ihm nach Saisonende ohne Zuschauer langweilig wurde. Das Gerücht, dass das Pfahlsitzen in Dänemark ein Volkssport sei und es sogar kleine Übungspoller für Kinder gebe, bestätigt sich nicht.

»Ich habe mir vorgestellt, ich sei eine Kartoffel. Damit habe ich eine passende Position zum Schlafen gefunden.«

Herbert aus Hamburg schippert derweil auf seiner „Sussie“ Gäste gratis durch den Hafen, das macht er immer so beim Hafenfest in Mommark. Das Motorboot ist hübsch dekoriert mit Deckchen und Blumen auf dem Tisch. Bei Knabbereien und Getränken lassen sich die Pfahlsitzer im Vorbeifahren so zur Abwechslung auch mal von achtern betrachten. Leute stöbern an Flohmarktständen oder sitzen mit Hotdogs und Pommes am Beckenrand, um die Männer auf den Pfählen zu betrachten. „Papa, gegen was demonstrieren die? Sind das Klimaaktivisten?“, fragt ein kleiner Junge.

Konkurrenten werden zum Team

Der dritte Abend mit Party, Essen und Getränken beginnt, buchstäblich in Fallweite von den vieren und für sie doch weit weg. Zurückhaltend zucken sie mit Köpfen oder Knien zur Musik – bis zu dem Klassiker „YMCA“: vier Buchstaben, für jeden einen! Sander hebt die Arme zu einem Y, ruft rüber zu Kevin, der mit dem M dran ist, der weiter zu den anderen. Drei unkoordinierte Versuche später steht die Choreografie im Club derer, die unter dem Jubel des Publikums als Kombattanten begannen und als Crew enden. Kein Wunder, dass auch am kühlen Sonntagmorgen noch alle dasitzen.

Am späten Nachmittag zeichnet sich ab, dass es erstmals alle bis zum Finale schaffen könnten. Dicht drängt sich das Publikum am Hafen. Carsten sieht auf der Bühne keinen Anlass mehr, die Sportler anzuspornen. Stattdessen treibt er bis zur letzten Sekunde das Spendenbarometer auf mehr als 6.000 Kronen in die Höhe, damit die Tapferen nicht mit kläglichem Stundenlohn davongehen.

„Vier! Drei! Zwei!“ Die Jungs klettern auf die Pfähle. „Eins!“ Sie reißen die Arme hoch, springen ins Wasser und schwimmen unter dem lauten Jubel des Publikums an Land. „Nie wieder!“ ist ihr Fazit. Aber schon im nächsten Jahr, da ist Carsten sicher, werden sich wieder Hunderte bewerben – um die Teilnahme an der härtesten Langstrecke Dänemarks.


Interview: Carsten Kock, der singende Hafenmeister

Darf beim Hafenfest im dänischen Mommark nicht fehlen: Pfahlsitzen! 
Angetreten, um 72 Stunden auf Holz zu verharren, sind in diesem Jahr Mathias Weis Jacobsen (27) und Casper Vejen Nielsen (30) sowie Sander Cederholm Lemming (23) und der 32-jährige Ex-Soldat Kevin Marek Esbjerg. Mit hohen Ambitionen auf den Pfahl gegangen, erklärte er vorab: "Meine Motivation kommt von meinen Kindern, denen ich zeigen möchte, dass man niemals aufgeben sollte, egal wie seltsam oder schwierig eine Herausforderung aussieht." 
Während das Fest läuft und der Hafenmeister fröhlich Lieder trällert (und die Pfahlsitzer morgens mit Frühstück versorgt) dürfen die vier Kandidaten ihren Pfahl innerhalb von 24 Stunden nur zweimal für je 15 Minuten verlassen. Das Urinieren ins Hafenbecken ist untersagt, insbesondere im Schlaf nicht herunterzupurzeln, gilt als große Herausforderung. Doch das Leiden lohnt sich: Zu gewinnen gibt es ein sattes Preisgeld von 20.000 Dänischen Kronen. 

Übrigens: Der Rekord im Pfahlsitzen liegt bei 196 Tagen, also 4.346 Stunden. Aufgestellt wurde dieser im Jahr 2002 im Heide Park Soltau von Daniel Baraniuk. 

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2013 hat Carsten Kock den Hafen und das umgebende Gelände in Mommark übernommen. Seitdem ist er unter Seglern bekannt für manch liebenswerte Eigenart.

Carsten, wie kamst du auf die Idee mit dem Pfahlsitzen?

Ich habe mir gedacht, dass jeder Hafen ein Hafenfest braucht. Ein Flohmarkt und Musik gehören dazu, aber ich habe nach weiteren Ideen gesucht. In Juelsminde wurde ich fündig, da gab es diesen Pfahlsitz-Wettbewerb. Ich habe gefragt, ob ich das nachmachen darf. Die Antwort war: „Das kannst du gern machen. Je mehr Pfahlsitzen wir in Dänemark haben, desto besser ist das für den Sport!“

Bei dir läuft ja auch sonst manches anders als in anderen Häfen?

Ja! Ich verkaufe jeden Morgen persönlich die Brötchen an die Segler. Ich drehe ich auch immer wieder eine Runde über den Steg – um zu kontrollieren, ob alle bezahlt haben, aber auch für ein paar nette Gespräche. Und abends bin ich dann der singende Hafenmeister. Im Sommer stehe ich hier vor dem Restaurant mit meiner Rollbühne und mache für ein paar Stunden Musik. Das mögen die Segler gern. Die kommen dann hier hoch auf ein Eis oder ein Getränk und genießen die Musik. Mir ist der persönliche Kontakt sehr wichtig. Solange ich hier bin, wird es in Mommark keinen Bezahlautomaten geben. Das wissen auch die Segler zu schätzen!

Die du dann mit dem Abendappell ins Bett schickst. Woher stammt das Ritual?

Ich blase den Appell mit dem Jagdhorn, weil ich von Herzen Jäger bin. Das ist für mich auch das Gute hier. Ich arbeite den Sommer durch, wenn keine Jagdsaison ist. Das heißt, ich bin viele Stunden hier, organisiere, habe kurze Besprechungen, trinke hier und da mal einen Kaffee. Das ist keine harte Arbeit, aber man muss natürlich dranbleiben. Im Winter habe ich dann sehr viel Freizeit und kann in meinem Wohnmobil in ganz Europa auf die Jagd gehen.

Wie wird man denn als Camper und Jäger zum Hafenmeister?

Ich hatte früher drei große Geschäfte mit Haushaltsgeräten mit 50 Angestellten. Das lief sehr gut. Aber dann kamen die großen Technikmärkte und der Internethandel. Für die Verbraucher wurde der Preis wichtiger als guter Service. Mit 40 habe ich beschlossen, etwas Neues aufzubauen. Ich habe die Läden verkauft. 2013 bekam ich die Chance, den Hafen und das ganze Gelände mit Strand und Campingplatz zu kaufen. Das war hier alles ziemlich runtergekommen und der Aufbau hat viel Mühe und Geld gekostet. Aber es hat sich gelohnt!

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